FFP-Pressemitteilung 7 / 2017
Elternzeit und Elterngeld bewirken Quantensprung
1. Frau Professorin Gerlach, geht es Familien in Deutschland heutzutage wirklich besser als vor vierzig, fünfzig Jahren?
So pauschal kann man das sicher nicht sagen. Die heutige Struktur vieler Familien, insbesondere alleinerziehender Elternschaft, ist mit einer Reihe von möglichen Problemen verbunden. Die hohe Armutswahrscheinlichkeit ist dabei sicher das schwerwiegendste. Eine deutliche Verbesserung zeigt sich allerdings hinsichtlich der heutigen staatlichen Unterstützung von Familie, die nicht nur höher und differenzierter ist als vor vier oder fünf Jahrzehnten und sich nicht nur auf monetäre Leistungen, sondern insbesondere auch auf Familien ergänzende Instrumente wie Kindertagesbetreuung oder Ganztagsschulen bezieht. Wichtig dabei ist auch, dass Vieles heute mit Rechtsansprüchen (Kindertagesbetreuung) verbunden bzw. grundgesetzlich gesichert ist (steuerliche Abzugsmöglichkeiten von Betreuungs- und Erziehungskosten neben denen für den physischen Unterhalt von Kindern).
2. Welche familienpolitischen Entscheidungen haben dazu beigetragen, dass Familien heute auf mehr Unterstützung zurückgreifen können?
Teilweise waren es Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, das quasi die Politik in eine „familienfreundlichere“ Richtung geleitet hat. Insbesondere hat die Einführung von Elternzeit und Elterngeld mit Lohnersatzcharakter ab 2007 aber einen „Quantensprung“ verursacht, der dazu führte, dass von einem Paradigmenwechsel in der deutschen Familienpolitik gesprochen wurde.
3. Die Vereinbarkeitspolitik erschien in Deutschland relativ spät auf der Agenda. Woran liegt das und welche Konsequenzen hat das bis heute?
Deutschland galt lange Zeit als „konservativer“ Sozialstaat, der die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Familien gefördert hat. Mit einer massiv zurückgehenden Geburtenzahl zeigte sich dann ebenso wie mit Blick in andere europäische Staaten, dass monetäre Leistungen allein die Menschen nicht dazu bewegen konnten, ihre Kinderwünsche zu erfüllen und die Politik setzte andere Schwerpunkte. Bis heute finden wir Spuren des vormaligen Denkens im Ehegattensplitting und in den Mitversicherungsrechten nicht erwerbstätiger Familienangehöriger.
4. Werfen wir abschließend einen Blick in die Zukunft: An welchen Stellen gibt es noch Reformbedarf?
Nach wie vor reicht das Betreuungsangebot schon quantitativ nicht aus, die Frage der Qualität wurde bisher nur zaghaft angegangen. Problematisch sind die teilweise sehr hohen Kosten und die mangelnde Flexibilität (Vertragsgestaltung) in der Kinderbetreuung. Die Tatsache, dass die Zuständigkeit für das Betreuungsangebot in den Kommunen liegt, schafft enorme Ungerechtigkeit im Vergleich der Kommunen in den Bundesländern und auch zwischen den Bundesländern, wenn es unterschiedliche landesgesetzliche Regelungen gibt. Daneben sollte die Familienpolitik zukünftig auch stärker die Kinder und später Jugendlichen nach dem Schuleintritt im Auge haben als bisher. Betrachtet man das große Feld Familie und Sozialstaat, so stellt sich die Frage, ob die Berücksichtigung von Familienarbeit nicht anders geregelt werden muss als bisher. In den erwerbszentrierten deutschen Sozialversicherungen ist Familie erst nachträglich durch abgeleitete Rechte berücksichtigt worden. In dem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach einer besseren Verteilung der Kosten, die Eltern im Vergleich mit Kinderlosen tragen. Für mich wäre der eleganteste Weg die Einführung einer sechsten Sozialversicherung: einer „Carezeit-Versicherung“.